Es ist nicht das erste Mal, dass Judenhasser an einem Jom Kippur Jüdinnen und Juden angreifen. Am 6. Oktober 1973, auch am Jom Kippur, griffen arabische Nachbarländer den jüdischen Staat an, mit dem Ziel, ihn zu zerstören. Auch damals überlebte und siegte Israel, wenn auch mit vielen menschlichen Verlusten.
Jom Kippur vor 80 Jahren. An nur zwei Tagen wurden im Nordwesten Kiews, in der Schlucht von Babyn Jar, 33 771 jüdische Frauen, Männer und Kinder, sogar Babys und ganze Familien brutal ermordet. Leider gab es vor 80 Jahren keine Kräfte, die dieses Massaker hätten verhindern können. An der Gedenkzeremonie am 6. Oktober dieses Jahres nahmen der Bundespräsident und die Präsidenten der Ukraine und des Staates Israel teil. Der ukrainische Präsident sagte, dass Babyn Jar von G‑tt für immer verlassen worden sei und sogar der Teufel sich nicht hierherzukommen traue.
Zu jener Zeit, im September 1941, waren die Vernichtungslager Majdanek, Sobibor und Auschwitz noch nicht im Betrieb. Sie waren noch in der Planung bzw. im Bau. Die Gräueltaten der Nazis sollten immer neue Dimensionen erreichen.
Gehen wir in der Geschichte drei Jahre weiter zurück. Am 9. November 1938 haben die späteren Mörder von Babyn Jar, von Sobibor und Auschwitz, einen ersten Versuch gestartet. Noch wagten sie es nicht, die industrielle Mordmaschinerie in Gang zu setzen. Sie wollten zunächst austesten, wie weit sie gehen könnten, welche Reaktionen die deutsche Gesellschaft, die Kirche, die einfachen Frauen und Männer, aber auch die Weltgemeinschaft zeigen würden. Und die Reaktion blieb, mit einigen wenigen Ausnahmen, aus.
Gehen wir noch einmal fünf Jahre weiter zurück, zur Wahl des 8. Deutschen Reichstags in der Weimarer Republik am 5. März 1933. Die NSDAP erreichte mehr als 46 % der Stimmen. Und das bei einer Wahlbeteiligung von über 93 %! Das bedeutet, dass 43 von 100 Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes der demokratiefeindlichen Nationalsozialistischen Partei in einem demokratischen Verfahren zur Machtergreifung verholfen haben.
Wir haben die Geschichte des Niedergangs und der Schoa nun in umgekehrt chronologischer Reihenfolge betrachtet. Diese Geschichte lehrt uns, dass nicht nur die unmittelbaren SS-Mörder, sondern auch die zahlreichen Unterstützerinnen und Unterstützer, auch wenn sie etwas nur scheinbar Neutrales und Unwichtiges tun, wie zum Beispiel den Henkern in der Schlucht von Babyn Jar Essen und Schnaps zu servieren oder Listen von Ermordeten und Verzeichnisse konfiszierter Güter zu erstellen, an der Schoa mitschuldig sind. Die Nationalsozialisten hätten es nie gewagt, den Genozid zu vollziehen, ohne diese stillschweigende Mehrheit in Deutschland und in der Welt!
Im Mai 1945 wurden sie militärisch besiegt. Die nationalsozialistische Ideologie konnte jedoch nicht besiegt werden – sie blieb bestehen, zunächst versteckt und dann immer stärker auch nach außen hin erkennbar. Wenn noch vor einigen Jahren jemand nur wagte, sich anonym per Telefon antisemitisch zu äußern, so macht er es heute sehr viel offener. Er stellt sich namentlich vor, verbirgt seine Telefonnummer nicht und behauptet, dass Israel arabische Kinder töte und es deshalb nichts Besonderes gewesen wäre, dass damals jüdische Kinder ermordet wurden.
Der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagte während der Gedenkveranstaltung in Babyn Jar vor einem Monat:
„Wie sehr wünschte ich mir, sagen zu können: Wir Deutsche haben ein für alle Mal aus der Geschichte gelernt. Aber das kann ich nicht. Es schmerzt mich und es macht mich zornig, dass Antisemitismus auch in Deutschland – ausgerechnet in Deutschland – wieder stärker wird. Es schmerzt mich und macht mich zornig, dass – ausgerechnet in der Notlage einer Pandemie – alter Hass in neue Verschwörungsmythen gegossen wird und aufpeitscht zu Hetze, Bedrohung und Gewalt. Die bösen Geister der Vergangenheit zeigen sich heute in neuem Gewand. Für uns Deutsche kann es darauf nur eine Antwort geben: Nie wieder! Der Kampf muss weitergehen – der Kampf gegen Antisemitismus und Menschenhass – und die Aufarbeitung der Verbrechen jener Zeit, zu der auch die juristische Aufarbeitung gehört.“