Wir sollen unseren Kindern zu Pessach persönlich von der Geschichte unseres Volkes erzählen – das soll und kann keine Schule übernehmen.
von Rebbetzin Katia Novominski (erschienen in der Jüdischen Rundschau am 5. April 2019 – 29. Adar II 5779)
Mit dem Gehen von Purim steht Pessach vor der Tür und löst alle Jahre wieder eine Flut an Putzfieber, Mazzaversand, Erinnerungen, Emotionen, aber eben auch Fragen und Artikel, Videos und sonstigem Lehrmaterial aus. Alle schreiben, was das Zeug hält und wir hoffen sehr, dass es keinen mehr gibt, der nicht weiß, dass der Ewige uns aus der Sklaverei in Ägypten geführt hat und wir auf Gesäuertes verzichten und eine Woche Mazza mit Kartoffeln und Hähnchen genießen sollen, weil unser Brot nicht aufgegangen ist.
Die Gesetze und die spirituelle Seite des Festes sind so wichtig, dass unsere Weisen sogar explizit die Rabbiner dazu auffordern den Schabbat haGadol (Schabbat vor Pessach), eine gesonderte Rede in der Synagoge, zu halten und die Gemeinden sowohl über die Gesetze des Festes zu informieren, als auch einen inspirierenden Gedanken zu teilen. (Zwei Mal im Jahr sind die Rabbiner so besonders gefordert – das zweite Mal Schabbat Tshuva – Schabbat der Rückkehr zwischen Rosch HaSchana und Jom Kippur).
Alle haben viel zu Pessach zu sagen – abgesehen von der technischen Seite der Gebote rund um das Essen sprechen wir vom Feiertag der Freiheit, des Frühlings, der Geburtsstunde des jüdischen Volkes und so weiter und so fort. Wir wollen uns aber weder wiederholen, noch haben wir den Anspruch mithalten zu können im Ozean der Vor-Pessach-Reden und -Schriften.
Da es jedoch nicht sehr geschickt wäre diese Seite und den Leser leer ausgehen zu lassen, werden wir uns es dennoch anmaßen ein Gebot ein bisschen genauer unter die Lupe zu nehmen. Und wir werden nicht davon sprechen, ob und wie schnell man seine Biervorräte vor Pessach austrinken sollte und was man mit den verbliebenen Nudeln machen soll. Es soll uns um etwas ganz anderes gehen.
Es steht geschrieben: „Und melden sollst du deinem Sohn an demselben Tage, sprechend: um des willen, was ER mir tat, als ich auszog von Ägypten (Shmot, 2. Buch Mose, Kap. 13, Vers 8; Buber-Rosenzweig-Übersetzung 1929, entsprechende Rechtschreibung beibehalten). (Im Sinne der heute üblichen sprachlichen Korrektheit reden wir natürlich auch von den Töchtern, wenn wir von den Söhnen sprechen.) Was hat es mit diesem Gebot auf sich? Auf der ersten Ebene lesen wir eine klare Anweisung – wir sollen unseren Kindern am Pessachtag vom Auszug aus Ägypten berichten. Damit wäre unsere Pflicht an einem Abend im Jahr (an zwei außerhalb von Israel) getan – wäre, wenn wir nicht viel mehr aus dieser Aufforderung lesen und lernen würden.
Eltern sollen den Kindern auch geistige Nahrung geben
„Melde, bzw. erzähle deinem Kind“ bedeutet, dass wir uns nicht nur um das leibliche Wohl unserer Kinder kümmern sollen – sprich gutes Essen, tolles Kindezimmer, viel Spielzeug und alle Gadgets der Welt. „Erzähle“ bedeutet vor allem „sprich mit deinem Kind! Kümmere dich um sein seelisches Wohl, um das Geistige, um das jüdische Erbe, um die Werte“ – und das natürlich nicht nur an einem oder zwei Abenden im Jahr.
Zwei Aspekte des Gebotes scheinen uns für unsere heutige Zeit und den Zustand der Gesellschaft bzw. der Bildung und Erziehung besonders wichtig.
„Erzähle deinem Sohn“ heißt, DU sollst erzählen. Du, also wir, die Eltern, sind mit diesem Gebot verpflichtet unsere Kinder zu erziehen. Es steht, wohl gemerkt, nicht da „und du sollst beauftragen den Kindergarten, die Lehrer, den Rabbiner, die Oma oder den Staat deinem Sohn zu erzählen“. Das Kümmern um die Erziehung unserer Kinder ist unsere alleinige Verantwortung und kann nicht durch Outsourcing gelöst werden. Die Bildungseinrichtungen sind dazu da, Wissen zu vermitteln. Wir als Eltern sind in die Pflicht genommen unsere Kinder zu Menschen zu erziehen. Mit allem, was dazu gehört – Werten und Normen, Freiheiten und Grenzen, eben allen Aspekten, was einen Menschen ausmacht, der eigenständig, verantwortlich und menschlich (auch wenn es jetzt eine Tautologie ist) in die „Welt da draußen“ entlassen werden soll. Spaß ist etwas anderes, es führt jedoch kein Weg daran vorbei. (Um der Diskussion um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie den Wind aus den Segeln zu nehmen, aber ohne belehren zu wollen… Wir als Juden haben, G´tt sei Dank, ein fantastisches Geschenk namens Schabbat, welches uns eben mindestens einmal wöchentlich die Zeit schenkt, uns der Verantwortung zu stellen und uns intensiv unseren Familien zu widmen. Und wenn man noch alle unsere Feiertage und die gesetzlichen Feiertage dazu zählt, dann kommt eine Menge Zeit zusammen).
Ein weiterer Gedanken, eben der versprochene zweite Aspekt ist, folgender:
„Du sollst melden/erzählen“, heißt eben „erzähle!“. Also sprich zu deinen Kindern. Du sollst sie nicht vor die Glotze, Handy, iPad, Tablet etc. etc. setzen. Du sollst ihnen nicht nur Befehle und Anweisungen geben. Du sollst ihnen nicht nur Fragen stellen, ob sie ihre Hausaufgaben erledigt haben und ob sie deiner Erwartungshaltung entsprechende Leistungen gebracht haben.
„Du sollst erzählen“ heißt, DU sollst erzählen! Du sollst ihnen erzählen von G´tt und der Welt, von der Geschichte unseres Volkes, von deiner/eurer Familiengeschichte/n – so erhält das Kind Wurzeln und weiß, wo es herkommt. Du sollst erzählen von deinen Hoffnungen und Träumen, von Erwartungen und Visionen – so erhält das Kind verschiedene Perspektiven und Flügel, damit es frei werden kann. Du sollst erzählen von Erfolgen und Scheitern, von Anstrengungen und von Überraschungen, es gibt dem Kind Anker und Segel – zu wissen, wo es stehen bleiben soll und wie es Wind kriegt, um voranzukommen. Erzähle deinem Kind von Gut und Böse, von Geboten und Verboten auch im weitesten Sinne, damit es eine Karte und einen Kompass erhält, um zu wissen, wohin und wie die Reise gehen soll.
Erzähle es deinen Söhnen und Töchtern! Lasst uns vor Pessach dieses Gebot der Thora besonders zu Herzen nehmen und es so erfüllen, dass es nicht nur bei uns einen koscheren und fröhlichen Pessach gibt, sondern, dass auch in der nächsten Generation, in ihren Häusern und hoffentlich auch an ihren Pessach-Tischen auch ihren Söhnen und Töchtern und auch Enkelkindern gemeldet werden kann, wie wir aus Ägypten geführt worden sind!
Pessach kascher vesameach!