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Ansprache des Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde zu Halle (Saale) Max Privorozki an der Gedenkveranstaltung zum Jahrestag des Novemberpogroms am 8. November 2019

Sehr geehrter Herr OB Dr. Wiegand, sehr geehrte Freunde,

zunächst möchte ich mich im Namen unserer Gemeinde bei den Hallenser*innen für die enorme Solidaritätswelle im Zusammenhang mit dem Anschlag am 9. Oktober 2019 bedanken. Unser besonderer Dank gilt der Polizei unserer Stadt für die Schutzmaßnahmen und gezielte Zusammenarbeit – ich sehe hier viele Beamte und bitte diesen Dank auch an Ihre Kolleg*innen weiterzuleiten. Ohne diese Solidarität und Zusammenarbeit wäre die Arbeit unserer Gemeinde kaum möglich.

Am 9. November 1938 wurde die hallesche Synagoge in der Kleinen Brauhausstraße geschändet und zerstört. Männer drangen in die Synagoge ein, plünderten sie, luden Kultgegenstände und andere Inneneinrichtung auf ihre Fahrzeuge und transportierten sie weg. Dann wurde in der Synagoge Feuer gelegt. Die Feuerwehr löschte den Brand nicht, sondern hatte lediglich die Aufgabe, die umliegenden Häuser vor einem Übergreifen des Feuers zu schützen. Vermutlich wurden 14 Tora-Rollen sowie Möbel, die Orgel und andere Einrichtungsgegenstände der Synagoge Opfer des Feuers. Die Ruine wurde 1940 abgerissen.

Am 9. Oktober 2019 wurde die hallesche Synagoge in der Humboldtstraße von einem schwerbewaffneten Antisemiten und Rechtsradikalen angegriffen. Er versuchte mit Sprengstoff und automatischen Waffen in das Gebäude einzudringen und sie mit Molotowcocktails anzuzünden. Aus purem Hass und Enttäuschung angesichts des misslungenen Pogroms erschoss er zwei unschuldige Menschen, Jana und Kevin.

Sehe ich Parallelen zwischen dem 9. November 1938 und dem 9. Oktober 2019? Ja, auf jeden Fall. Obwohl zwischen diesen beiden Ereignissen immense Unterschiede bestehen, geht es in beiden Fällen um Taten, die als dunkle Momente in der Stadtgeschichte präsent bleiben.

Was vereint den Novemberpogrom von 1938 mit dem Oktoberattentat von 2019? Zunächst der irrationale und blinde Hass gegen Juden. Die Gründe dieses Hasses haben denselben Ursprung und lediglich unterschiedliche Verbreitungsmethoden aufgrund der veränderten technischen Möglichkeiten. Geschah es damals über die Druckmedien à la Der Stürmer und Radiosendungen im „Volksempfänger“, so werden wir in der heutigen Zeit mit den wildesten Verschwörungstheorien im Internet und den sozialen Netzwerken, aber auch in einigen Pressemedien konfrontiert, wie vor Kurzem im Spiegel über die angebliche jüdische Einflussnahme im Bundestag.

Dann die Verschwörungstheorien, die sich in Verschwörungstaten wandeln: „Die Juden haben Brunnen vergiftet.“ „Die Juden nutzen Blut von christlichen Kindern, um Matze zu produzieren.“ „Die Juden können ihr Land nicht lieben.“ „Die Juden haben zu viel Macht, zu viel Geld, sie sind zu stark in Regierungen/Business/Medien oder anderswo vertreten.“ „Die Juden sind unser Unglück.“ Das war damals.

Und was ist jetzt? „Die israelischen Rabbiner haben Brunnen vergiftet, um Palästinenser zu töten.“ „Die Juden stehen mehr zu Israel als zu ihrem eigenen Land.“ „Israel hat zu großen Einfluss.“ und „Israel ist unser Unglück.“

Und was vereint beide Ereignisse außerdem noch? Obwohl der Novemberpogrom vor 81 Jahren und das Attentat auf die Synagoge in der Humboldtstraße vor einem Monat stattfanden, fehlt es an Analysen darüber, wie dies geschehen konnte. Zum Novemberpogrom wurde viele wissenschaftlich-historische Untersuchungen geschrieben und es gibt Darstellungen zur geschichtlichen Entwicklung antisemitischer Tendenzen (z.B. nach Dr. Ulbrich):

– Im April 1933: Boykottmaßnahmen gegen jüdische Unternehmen, Rechtsanwälte und Ärzte und das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“; „nicht arische“ Beamte und Angestellte auf allen Ebenen der Verwaltung wurden entlassen.

– Im Mai 1933: Verbrennung von Büchern „nicht arischer“ und anderer Autoren auf dem Universitätsplatz in Halle.

– Die Nürnberger Rassegesetze vom September 1935 mit dem „Reichsbürgergesetz“ und dem „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“.

– Maßnahmen zur Beseitigung jüdischer Friedhöfe. In Halle musste die Jüdische Gemeinde 1937 ihre alte Begräbnisstätte in der Gottesackerstraße/am Töpferplan aufgeben und alle Grabsteine auf den jüdischen Friedhof in der Boelckestraße (heute: Dessauer Straße) umsetzen.

Für mich persönlich erklärt all das jedoch nicht, wie sich einzelne Menschen zu solchen Handlungen, wie die am 9. November 1938, herablassen konnten. Die gleiche Frage stelle ich auch jetzt zum Attentäter vom 9. Oktober 2019: Wie konnte es passieren, dass sich ein im Jahr 1992 geborener Mitbürger namens Stefan B. im Jahr 2019 zu einem Monster entwickelt hat? Auf beide Fragen habe ich keine Antwort. Ich vermute jedoch, dass die Antworten ähnlich sind. In beiden Fällen herrschte in der Gesellschaft eine massive Intoleranz. Hass und Gewalt scheinen zur Normalität geworden zu sein; die moralische Entwicklung der Gesellschaft ist hinter der technischen Entwicklung weit zurückgeblieben.

Es betraf und betrifft nicht nur Juden. Der Antisemitismus ist dennoch wie ein Stück Lackmuspapier: er zeigt den Zustand der Gesellschaft. Dabei geht es nicht um den einzelnen Menschen oder um Berufsgruppen. Es geht um die Allgemeinheit und beginnt manchmal dort, wo es nicht unbedingt ernst genommen wird. Schlimm ist nicht die Tatsache, dass Mahmud Abbas in seiner Rede im EU-Parlament vor drei Jahren ein altes Lügenmärchen über die Brunnenvergiftung durch die Juden verbreitete, sondern dass diese Lüge dort mit stehendem Applaus aufgenommen wurde und der damalige Parlamentspräsident und künftige SPD-Spitzenkandidat sie eine „inspirierende Rede“ nannte.

Die Probleme eines jeden Wesens beginnen immer im Kopf: Hier sollte die Antwort auf die Frage, wie dies möglich gewesen war, gesucht werden. Dann lassen sich auch die Umsetzungsrezepte für den Slogan „Nie wieder!“ erarbeiten. Andernfalls bleibt dieser Slogan, genauso wie das Wort „Alarmzeichen“, nur ein Lippenbekenntnis.

Zwischen dem Pogrom vom 9. November 1938 und dem Attentat vom 9. Oktober 2019 gibt es jedoch einen entscheidenden Unterschied: die Reaktion der absoluten Mehrheit der Bevölkerung. Die fast 900 Solidaritätsbekundungen in Form von Anrufen, E-Mails, Nachrichten und Briefen, die wir in den ersten Tagen erhielten und nach wie vor auch noch erhalten, geben uns die Hoffnung, dass, wie wir in unserer Erklärung nach dem Attentat formuliert haben, wir ein Teil dieser Gesellschaft sein dürfen und dass der Mörder vom 9. Oktober mit seiner Hassideologie und bestialischen Brutalität in absoluter Minderheit bleibt.

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Im Anschluss bitte ich unseren Kantor neben dem üblichen Gebet El Male Rachamim auch ein spezielles Gedenkgebet für Jana und Kevin, zwei unschuldige Opfer des Mörders vom 9. Oktober, zu sprechen.