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Gedenkrede von Max Privorozki am 9. November 2014

Artikel zur Gedenkveranstaltung am 9. November 2014

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

ich habe mir einige Zeit genommen bei der Überlegung, was ich heute hier bei dem Gedenken an die Reichspogromnacht vor 76 Jahren sagen möchte. Ich habe meine vorjährigen Vorträge nochmals gelesen und erkannt, dass die Welt – seit dem 9. November 2013 – sich wesentlich geändert hat. Und zwar leider nicht zum Besten.  

Die Redner betonen immer wieder und wieder – und ich bin hier keine Ausnahme – dass die Hauptlehre und das Hauptziel dieser Gedenkveranstaltungen das Mahnen an die neuen Generationen und das Lernen aus der Geschichte ist. Die Fehler der Vergangenheit müssen verstanden werden um nicht mehr möglich zu sein. Fast alle wissen, dass das Naziregime verbrecherisch gewesen ist. Aber nur wenige verstehen, oder mindestens versuchen zu verstehen, wie dieses unmenschliche Verbrechen in einer solchen kulturell fortgeschrittenen Gesellschaft möglich geworden ist. Ich habe mehrere Jahre versucht mir selber diese Frage zu stellen: wie konnten ganz normale und meistens intelligente Menschen in einer kurzen Zeit sich zu einer absoluten Mehrheit der schweigenden oder gar aktiven Mörder entwickeln? Mir war bewusst, dass dieser Prozess mehrstufig war. Die Nazis haben getestet, wie reagiert die Mehrheit im In- und im Ausland auf immer neue und stets frechere Handlungen. Und sie mussten – möglicherweise auch manchmal mit Verwunderung – feststellen, dass diese Mehrheit gleichgültig blieb. Sehr wahrscheinlich haben einige Politiker verstanden, dass die Lage mehr und mehr außer Kontrolle geriet. Man hat aber nicht gesagt: jetzt reicht es! Umgekehrt, man hat geduldet die Nürnberger Gesetzte, dann Anschluss Österreichs und Eingliederung des Sudetenlandes. Dann schloss man die Augen bei dem Novemberpogrom. Das Europa hat mit gelähmter Sorge zugeschaut wie das Monster immer unersättlicher geworden ist. Mit dieser Untätigkeit ersehnten Europäer den Krieg zu vermeiden. Die Schicksale von Schwächeren wurden für den Erhalt des Friedens – und für die vorübergehenden wirtschaftlichen Gewinne – einfach geopfert. Dann kam es zum Einmarsch nach Polen, Belgien und die Eroberung des Großteils Frankreichs, zum Krieg im Osten, im Westen, im Süden und im Norden. Und zum Holocaust.      

75 Jahre nach Beginn des 2. und 100 Jahre nach Beginn des 1. Weltkriegs sind wir wahrscheinlich genauso gutgläubig geblieben. Es wachsen schneller und schneller neue Monster, wie der Islamische Staat. Und die Welt schaut zu. Es werden alle nach dem 2. Weltkrieg geschaffenen Regeln des Sicherheitssystems und der Koexistenz auf einmal im Osten Europas gebrochen. Und die Welt schaut zu. Mit dem Datum 9. November verbindet man in Deutschland seit 25 Jahren ein sehr fröhliches Ereignis – der Fall der Berliner Mauer. Der Fall dieses Symbols der kommunistischen Diktatur ist nicht zuletzt dank der Montagsdemonstrationen mit dem Ruf „Wir sind das Volk“ möglich geworden. Und jetzt: dieses Symbol der Befreiung wird unter gleichen Namen jeden Montag in mehreren deutschen Städten für widerwärtige Zwecke missbraucht. Und die anständigen Menschen schauen zu.       

Einzelne Politiker und gesamte Völker möchten nicht begreifen, dass im 21. Jahrhundert – noch weniger als im 20. Jahrhundert – der Wohlstand eines Staates in einem mit künstlichen Grenzen geschaffenen Land nicht möglich  ist und daher ist er nicht zu halten. Hier helfen keine Wörter und kein Populismus wie aktuell die volkstümliche Alternative für Deutschland. Man kann sich nicht leisten mit ein bisschen Geld alle Löcher zu stopfen. Diese Löcher sind dafür zu groß und zu ernst geworden.

Man kann fragen, was ist denn möglich zu tun, um diesem Wegschauen etwas entgegenzusetzen? Die Antwort auf diese Frage gaben mehrere tapfere und einfach nicht gleichgültige Menschen auch vor 75 Jahren. Hier ist ein Beispiel: Die Weisung des Schweizer Bundesrats vom August 1938 war klar: Keine Flüchtlinge aus dem Dritten Reich dürfen mehr über die Grenzen, vor allem keine jüdischen. Seit dem Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland im März desselben Jahres flohen Juden auch aus dem Osten in die Schweiz – mit gültigem, gefälschtem oder gar keinem Visum. Doch bald stellte man in Bern verwundert fest, dass in der Ostschweiz immer noch gleich viele Leute aufgenommen wurden. Dafür verantwortlich war ein Mann namens Paul Grüninger, als St. Galler Polizeihauptmann für die Grenzsicherung verantwortlich. Er handelte nicht nach dem Gesetz, sondern nach seinem Gewissen. Der «Oskar Schindler der Schweiz» legte die Vorgaben bewusst locker aus und ließ etliche Flüchtlinge illegal über die Grenze. Dafür datierte er Visumspapiere vor, ließ falsche Einreisedaten in die Akten schreiben, verwendete Aktennummern mehrmals und schrieb sogar Briefe in die Konzentrationslager. Wie viele Juden Grüninger gerettet hat, ist umstritten: Die Schätzungen reichen von etlichen Hundert bis zu über 3000. Ebenso unklar ist, wie viele Flüchtlinge zwischen 1933 und 1945 an der Schweizer Grenze abgewiesen und so meist direkt in den Tod geschickt wurden. Hier kursieren Zahlen zwischen 3000 und 30.000.

Und der Hass gegen die Juden ist immer vorne dabei. Wer ist schuld an den Problemen? Klar, die Juden. Oder zumindest, der Staat Israel. Den Sündenbock erfanden Menschen vor tausenden Jahren. Und er ist immer noch da. Denn wie kann man es anders erklären, dass die UN-Generalversammlung 21 Mal israelkritische Resolutionen verabschiedet hat. Zu gleicher Zeit gab es lediglich jeweils eine Resolution mit Kritik von Syrien, Iran und Nordkorea und keine einzige die z. B. Saudi Arabien oder Zimbabwe kritisiert hatte!

75 Jahre nach Beginn des 2. Weltkriegs konnte man sich im schlechtesten Albtraum kaum vorstellen, dass dieses Thema so gravierend wieder auf der Tagesordnung steht. Ich betrachte die jetzige Steigerung des antisemitischen Potenzials in der Gesellschaft als keine quantitative mehr, sondern als qualitative. Antisemitismus ist nicht nur salonfähig, sondern wesentlich gefährlicher als früher geworden. Ich hatte niemals Angst, meine Damen und Herren. Aber jetzt, nachdem mir persönlich neben der halleschen Synagoge vorgeworfen wurde, dass ich „Kindermörder“ bin, bin ich auch teilweise gelähmt: was folgt? Die Geschichte zeigt uns, dass es auch in der Vergangenheit nicht sofort zu den Pogromen gekommen war.

Heutiger Antisemitismus versucht sich unter der Maske der s. g. „legitimen Kritik der israelischen Politik“ zu verstecken. Dabei unter „legitimer Kritik“ versteht man die Aberkennung des Selbstverteidigungsrechts des Staates Israel. Diese Kritiker können nicht begreifen, das Israel seine Raketen nutzt um seine Kinder zu schützen und deren Gegner – Terroristen von HAMAS – ihre Kinder nutzen um die versteckten Raketenarsenale in den Schulen zu beschützen. Die Israelis versuchen die erkrankte Enkelin eines hochrangigen HAMAS-Aktivisten im israelischen Krankenhaus zu retten und ein anderer HAMAS-Terrorist bringt ein Baby auf der S-Bahn-Haltestelle um. Ja, dieselben HAMAS-Terroristen, die genauso wie Terroristen des Islamischen Staates, eine mörderische Gesellschaft aufbauen wollen wo es kein Platz für andere Religionen und allgemein für Andersdenkende gibt. An was erinnert dies? Haben wir trotz des jährlichen ritualisierten Gedenkens bereits vergessen, dass genau dieser Kern des Totalitarismus auch das Naziregime hatte?

Ich möchte sehr hoffen, dass in der Gedenkveranstaltung am 9. November 2015 wir wieder mehr direkt über die Opfer des Holocaust reden werden. Und sagen können, dass aus ihrer Geschichte die Lehre gezogen wurde und diese Opfer nicht umsonst gewesen sind…