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Gedenkveranstaltung am Holocaustgedenktag 9. November 2016, Jerusalem Platz in Halle – Ansprache von Max Privorozki

img-20161109-wa0000Es ist mittlerweile das achtzehnte Mal, dass ich auf einer Gedenkveranstaltung anlässlich des Jahrestages des Novemberpogroms von 1938 spreche. Vor einigen Tagen habe ich meine Ansprachen der vergangenen Jahre noch einmal durchgelesen, um für mich selbst zu reflektieren, was sich in der Zeit verändert hat und was ich in den jeweiligen Jahren für wichtig hielt. Ich stellte mir die Fragen: Bringen diese Gedenkveranstaltungen und Ansprachen überhaupt etwas? Oder sind sie nicht einfach nur zu Alibiveranstaltungen geworden, die ein- oder zweimal im Jahr stattfinden, um an den Tagesordnungspunkt „Haben wir in diesem Jahr an die Opfer der Schoa gedacht“ ein Häkchen setzen zu können?

Die Entwicklungen in der Gesellschaft – nicht nur in Halle oder Deutschland sondern auch weltweit – haben besonders in diesem Jahr gezeigt, dass die Menschheit sehr kurzsichtig ist. Kriege und bewaffnete Konflikte gab es auch nach Ende des 2. Weltkrieges immer wieder. Die Brutalität und Aggressivität sind in der letzten Zeit so bedrohlich angestiegen, dass man denken könnte, die Geschichte wolle sich unbedingt wiederholen. Und die Appeasement-Politik gegenüber den heutigen Gesetzesbrechern erscheint wie ein Déjà-vu. Wie ein Déjà-vu wirkt leider auch die Entwicklung des Antisemitismus weltweit, speziell aber in Europa. Ob nun die Verschwörungstheorien über die Weltmacht des jüdischen oder jüdisch-amerikanischen Kapitals oder die ständige, fast schon hemmungslose antiisraelische Hetze, wie vor kurzem im Fall einer UNESCO-Jerusalem-Resolution – all das hinterlässt ein Gefühl von Fassungslosigkeit. Und so scheint sich die Aussage zu bestätigen: „Die Geschichte wiederholt sich – das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce“.

Weshalb spreche ich heute, am Jahrestag des ersten von den Nationalsozialisten organisierten, landesweiten antijüdischen Pogroms, darüber? Mein erster Gedanke war es – nachdem ich, wie gesagt, die Inhalte der Ansprachen der vergangenen Jahre den aktuellen Entwicklungen gegenübergestellte –, heute ganz auf die Gedenkansprache zu verzichten. Denn was bringen alle mahnenden Worte über ermordete Kinder und Frauen und über niedergebrannte Synagogen, wenn keine Verbindung zu den gegenwärtigen Entwicklungen gezogen wird? Die Opfer können nicht wieder lebendig gemacht werden. 33 771 jüdische Leben – so die offiziell ermittelte Zahl – wurden an nur zwei Herbsttagen vor 75 Jahren, am 29. und 30. September 1941, in Babyn Jar auf dem Gebiet meiner Heimatstadt Kiew in einem von deutschen Nationalsozialisten organisierten und mit Hilfe von einheimischen Kollaborateuren durchgeführten Massaker ausgelöscht – unter ihnen auch ein Teil meiner Familie. Dies kann man weder verstehen noch verzeihen, egal wie oft oder ob überhaupt darüber gesprochen wird.

Dann allerdings habe ich mich doch entschieden heute zu sprechen. Dafür gibt es drei gewichtige Gründe:

Zum einen wandeln sich die schrecklichen Ereignisse der Schoa mit jedem weiteren vergangenen Jahr von tatsächlichen Erlebnissen zu bloßen Fakten auf einer Seite im Lehrbuch der Menschheitsgeschichte. Zeitzeugen, Schoa-Überlebende und nichtjüdische Menschen, die Juden damals retteten, gehen nach und nach von uns, wie zum Beispiel innerhalb der letzten Monate Max Mannheimer und Elie Wiesel, um nur einige von ihnen zu nennen. Es wird schon bald eine Zeit kommen, in der man über die Schoa nur noch in Büchern lesen kann, so wie über den 1. Weltkrieg oder die Weimarer Republik. Angesichts dieser Tatsache ist es besonders wichtig, jede Gelegenheit zu nutzen, um die Erinnerung an die Gräuel des NS-Terrors wachzuhalten, auch wenn es keine Stimmen mehr gibt, die für die sechs Millionen ermordeten Juden sprechen können. Diese Erinnerung, diese Erfahrung aus der Vergangenheit darf nicht nur ein Teil des Geschichtsunterrichts werden. Kinder werden nicht als Antisemiten, Terroristen bzw. Rechts- oder Linksradikale geboren. Und die Schule, egal wie gut das staatliche Bildungssystem funktioniert, ist nicht allein in der Lage eine erfolgreiche Erziehung zu gewährleisten. Erziehung und Ausbildung beginnen in der Familie und sind zu einem großen Teil auch Aufgabe der Familie. Der Weg der familiären Erziehung ist schwer. Trotzdem muss jede Gelegenheit – wie zum Beispiel heute – genutzt werden, um diesen Weg zu beschreiten.

Der zweite Grund ist, diese Veranstaltung als Gelegenheit zu sehen – möglicherweise eine der letzten Möglichkeiten –, um den gegenwärtigen Antisemitismus und die damit verbundene Bedrohung des jüdischen Lebens zu thematisieren. Ich möchte in diesem Zusammenhang nur ein paar Zahlen nennen: Im Jahr 2006 wanderten 364 westeuropäische Juden nach Israel aus. 2011 waren es schon 3 178. Und 2015 betrug die offizielle Zahl der neuen Olim – der Einwanderer aus Westeuropa nach Israel – 9 967 Personen! Eine fast 30-fache Steigerung innerhalb von 10 Jahren und immer noch eine mehr als dreifache Steigerung innerhalb von nur 4 Jahren! Um diese Tendenz zu stoppen genügt es nicht, Fachkonferenzen und Workshops zu organisieren oder Studien in Auftrag zu geben. Allen Studien und Workshops müssen Handlungen folgen. Wie zum Beispiel die von uns vor Jahren angestoßene und bis heute nicht realisierte Einbindung der Besichtigung der Synagoge in Halle oder eines anderen jüdischen Objekts in den Schullehrplan. Obwohl heute bereits mehrere hallesche Schulklassen die Synagoge besuchen, bleibt es immer noch vom Willen des Klassenlehrers abhängig, ob diese Besichtigungen überhaupt stattfinden.

Ebenso wenig genügt es, eine erfolgreiche Integration neu zugewanderter Flüchtlinge nur im Erlernen der deutschen Sprache und in der Unterstützung bei der Arbeitssuche zu sehen. Zur Integration gehören nicht nur die, meist staatlich geförderte, Jobaufnahme und der Deutschunterricht. Eine erfolgreiche Integration bedeutet auch, dass die Neu-Zugewanderten das Judentum in Deutschland als untrennbaren Teil der deutschen Gesellschaft verstehen und akzeptieren lernen; und das in allen Aspekten: von der Kultur und Religion über die Geschichte bis hin zu dem von der Bundeskanzlerin definierten Teil der deutschen Staatsräson. Die Sicherheit und das Existenzrecht Israels haben einen besonderen Stellenwert.

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Es gibt aber auch noch einen dritten Grund, meine Gedenkansprache heute zu halten, – und den wird es immer geben. Unabhängig von den politischen Ereignissen sind wir an Gedenktagen wie dem heutigen zum Beten verpflichtet. Nur der Glaube an G-tt und an den von ihm erschöpften Menschen bringt uns Kraft. Das Beten des El male rachamim und des Kaddisch für alle Opfer der Schoa ist auch für die Seelen der Ermordeten von immenser Wichtigkeit.