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Interview mit Max Privorozki

Liebe Besucher der Homepage der Jüdischen Gemeinde zu Halle (Saale),

in den letzten zwei Wochen vor dem 80. Jahrestag des Novemberpogroms habe ich mehrere Anfragen, sowohl zum gegenwärtigen Leben der jüdischen Gemeinschaft als auch zur Bedeutung des Gedenkens, erhalten. Da es sich jedoch um Anfragen verschiedener Reporter handelte und nicht klar ist, ob daraus eine komplette Reportage in den Medien erscheinen wird, haben wir entschieden, eine eigene Zusammenfassung aus allen diesen Interviews hier zu veröffentlichen.

 

 

  • Welche Bedeutung hat das Gedenken an den Novemberpogrom für die Jüdische Gemeinde?

Ich würde diese Frage anders formulieren: Welche Bedeutung hat das Andenken an die Schoa für uns Juden?

Ich habe zum ersten Mal im Jahr 1999 als Vertreter der Jüdischen Gemeinde zu Halle an der Novembergedenkveranstaltung mit einem Redebeitrag teilgenommen. Seitdem war ich jährlich, sowohl in Halle (Saale) als auch in vielen anderen Städten Sachsen-Anhalts, bei den Gedenkveranstaltungen als Redner präsent. Nach all diesen Jahren bin ich zu der Schlussfolgerung gekommen, dass sich mit der Zeit nicht nur die Bedeutung, sondern auch der Sinn des Gedenkens verändert. Der Grund dafür ist ganz einfach: Im Laufe der Zeit gibt es immer weniger Menschen, die selbst diesen Horror erlebt und überlebt haben. Zwangsläufig übernehmen die Kinder und Enkelkinder diese Last von den Schoa-Überlebenden. Sie selbst, ebenso wie die Kinder und Enkelkinder derjenigen, die ebenfalls in dieser Zeit lebten und zumindest Zeugen der Ereignisse und des Massenmordes waren, können nur mittelbar über das Geschehene reden. Auch die Erzählungen der Eltern und Großeltern werden mit der Zeit durch Bücher und wissenschaftliche Quellen ersetzt. Genauso wie wir heute über die Pogrome des Mittelalters oder zu Beginn des 20. Jahrhunderts reden, so wandelt sich die Sichtweise auf die Ereignisse des Novemberpogroms von 1938 mit der Zeit von etwas real Erlebten zu etwas, das als ein weiteres grausamen Kapitel in einem Geschichtsbuch nachgelesen werden kann. Möglicherweise gefällt uns diese Tatsache nicht, sie umgibt uns jedoch, ebenso wie die Frage, ob es nicht an der Zeit wäre einen Schlussstrich zu ziehen – selbstverständlich nicht in dem Sinne, dass darüber nicht mehr gesprochen werden sollte, sondern dass das Geschehene inzwischen im wissenschaftlichen Sinne ein Bestandteil der Geschichte geworden ist.

Daraus habe ich, zumindest für mich selbst, entschieden: Das Gedenken nur als ein Ritual mit der Aufzählung der vielen Verbrechen der Nationalsozialisten und des damit verbundenen großen Leids, dem die Juden in Deutschland und Europa ausgesetzt waren, zu sehen ist zwecklos, wenn dabei aus diesem Leid und den Verbrechen keine Konsequenzen für die Gegenwart und im Besonderen für die Zukunft gezogen werden. Und dies ist wiederum kaum möglich, indem ausschließlich über den Novemberpogrom oder Ausschwitz geredet wird, ohne dabei die Frage zu stellen, wie es dazu kommen konnte.

Am 9. November 1918 wurde die Weimarer Republik, die erste parlamentarische Demokratie auf deutschem Boden ausgerufen. Aus dem Deutschen Reich wurde de facto eine föderative Republik mit Reichspräsidenten und Reichskanzlern. Diese Republik existierte jedoch nicht sehr lange: Schon im September 1930 erhielt die NSDAP bei den Reichstagswahlen zum Beispiel in Magdeburg fast 20 Prozent, im Juli 1932 44 Prozent und im März 1933 47 Prozent der Stimmen. Damit war diese erste parlamentarische deutsche Demokratie bereits nach 15 Jahren beendet.

Im März 1933 begann das, was ein gegenwärtiger Fraktionsvorsitzender einer Partei im Bundestag als „Vogelschiss der deutschen Geschichte“ bezeichnete. Genau 20 Jahren nach der Geburt der Weimarer Republik entwickelte sich dieser „Vogelschiss“ zu einem der schlimmsten Pogrome in der deutschen Geschichte gegen die jüdische Bevölkerung. Dieser Pogrom eröffnete den Weg zur Massenvernichtung der Juden in Europa – den Weg zur Schoa.

Möglicherweise können diese Ereignisse von einigen, die den Zeitraum im Vergleich zur allgemeinen deutschen Geschichte sehen, als „Vogelschiss der Geschichte“ bezeichnet werden. Für uns Juden war dieser in der gesamten deutschen Geschichte vergleichsweise kurze Abschnitt jedoch zu brutal und zu bedeutungsvoll. Jede jüdische Familie, nicht nur in Deutschland, hat Opfer dieses Massenmordes zu beklagen. Deswegen möchte ich, 100 Jahre nach der Geburt der Weimarer Republik und 80 Jahre nach dem Novemberpogrom, denjenigen, die das letztere Ereignis verharmlosen, sagen: Einen Vogelschiss kann man bereinigen und die Oberflächen wieder sauber machen. Die Schoa zu bereinigen ist nicht möglich. Wer es jedoch versucht, gefährdet die gegenwärtige deutsche Demokratie und fördert die Gefahr, dass ihr dasselbe Schicksal wiederfährt wie damals der Weimarer Republik. Das dürfen die demokratischen Kräfte, egal ob vom rechten oder linken politischen Spektrum, nicht zulassen.

Es gibt für uns noch einer nicht weniger wichtigen Grund für das Gedenken: das Gebet. Wir erinnern uns an die Millionen Menschen, Kinder, Frauen, Männer, die Opfer dieses Massenmordes wurden, und beten das „El Male Rachamim“-Gebet. Es scheint, als bliebe das Gebet in Zukunft der einzige Grund für das Gedenken…

  • Wie viele Mitglieder hat die Jüdische Gemeinde zu Halle aktuell? Wie ist die Entwicklung im Vergleich zu 2008 und 1998?

Die Mitgliederzahl der Jüdischen Gemeinde zu Halle (Saale) ist keine Konstante, auch nicht während eines jeweiligen Jahres. Die Gemeindemitglieder müssen satzungsgemäß drei Voraussetzungen erfüllen:

  • Hauptwohnsitz im Land Sachsen-Anhalt
  • Zugehörigkeit zum jüdischen Glauben mit Nachweis eines in Deutschland amtierenden Rabbiners, Mitglieds der ORD (Orthodoxe Rabbinerkonferenz Deutschland) oder ARK (Allgemeine Rabbinerkonferenz Deutschland)
  • beiderseitige schriftliche Willenserklärung (des Mitglieds und der Gemeinde) zur Aufnahme.

Wir haben heute 568 Mitglieder, davon 383 stimmberechtigte. Es gibt derzeit 93 Mitglieder, die jünger als 18 Jahre sind. Die Zahl der Gemeindemitglieder stagniert bzw. geht seit 2005 zurück. Die Mitgliederzahlen der Jüdischen Gemeinde zu Halle sind z.B.:

  • 1994                99
  • 1998              354
  • 2005              739 (höchste Zahl)
  • 2016              570

Unabhängig von den Mitgliederzahlen hat sich jedoch die Gemeindearbeit geändert. Wir werden mit neuen Herausforderungen konfrontiert, die in jedem Fall komplizierter geworden sind als die in der Zeit der großen Zuwanderungswelle in den Jahren 1992 bis 2005. Damals war es am wichtigsten, den neuzugewanderten Menschen so zusagen „erste Hilfe mit einer jüdischen Komponente“ zu leisten: in Alltagsproblemen, bei Behördengängen, in der Berufsanerkennung, aber auch in der Integration in die jüdische Gemeinschaft Deutschlands. Heute müssen wir strukturelle und ganz schwierige Aufgaben lösen, z.B. was die Einführung eines schulischen Religionsunterrichts zum Judentum betrifft. Im Koalitionsvertrag der gegenwärtigen Koalition gibt es einen Hinweis auf die Einführung des Schulunterrichts Islam. Beim jüdischen Religionsunterricht gibt es, trotz der jahrelangen Verhandlungen und einer positiven Willenserklärung, weiterhin keine greifbaren Fortschritte.

  • Welche Bedeutung hat die Jüdische Gemeinde zu Halle heute im Vergleich zu den anderen in Sachsen-Anhalt in Bezug auf Größe usw.?

Die Jüdische Gemeinde zu Halle ist von der Mitgliederzahl her die größte Gemeinde in Sachsen-Anhalt. Es gibt aber außer der Mitgliederzahl keinen Unterschied zu den Gemeinden in Dessau und Magdeburg (Jüdische Gemeinde zu Dessau und Synagogen-Gemeinde zu Magdeburg) – alle drei sind Körperschaften des öffentlichen Rechts und übernehmen somit alle üblichen Aufgaben in ihrem jeweiligen Einzugsgebiet.

  • Zurzeit laufen die Jüdischen Kulturtage Halle – ein spannender Beitrag, um jüdisches Leben in das Bewusstsein aller zu bringen. Reicht das oder müsste aus Ihrer Sicht in Halle noch mehr angeboten werden?

Was die Vorstellung der jüdischen Kultur betrifft, sehe ich die gegenwärtigen Jüdischen Kulturtage Halle als eine hervorragende Veranstaltungsreihe mit einem überwältigen und inhaltlich sehr reichen Programm. Ich würde mir jedoch wünschen, dass die jüdischen Kulturtage mit einem solchen Programm auch auf Landesebene stattfinden. In diesem Jahr haben wir bereits eine Reihe von gemeinsamen Events mit anderen Städten, wie z.B. Gröbzig, Dessau-Roßlau und Halberstadt. Der Staatsvertrag mit der jüdischen Gemeinschaft sieht vor, die Organisation der jüdischen Kulturtage auf Landesebene zu unterstützen.

  • Die Jüdische Gemeinde engagiert sich stark in der Kinder- und Jugendarbeit – aber worin besteht der Kinderunterricht im Kinderklub, wer leitet ihn? Was ist der Jugendklub und wo befindet sich das Jugendzentrum „Anachnu Chawerim“? Gibt es dort auch gemeinsame Veranstaltungen mit nicht-jüdischen Kindern?

Die Gemeindeaktivitäten in der Kinder- und Jugendarbeit sowie in der Seniorenbetreuung konzentrieren sich zum größten Teil auf die Mitglieder der Jüdischen Gemeinde zu Halle bzw. auf die Personen, die in der Gemeinde den Status eines Gemeindeangehörigen haben (also ein nicht-jüdisches Familienmitglied eines Gemeindemitglieds). Die Aktivitäten finden sowohl im Gemeindezentrum, das auch das Jugendzentrum „Anachnu Chawerim“ beherbergt, als auch in der Synagoge oder an diversen anderen Orten statt, wo wir Räumlichkeiten für bestimmte Events anmieten (im In- und auch im Ausland, z.B. im Rahmen der Winter- und Sommerferienlager). Außerdem gibt es eine sehr enge und gute Zusammenarbeit mit den Jugendzentren der Gemeinden in Magdeburg und Dessau sowie in den Bundesländern Sachsen und Thüringen.

In unserem Jugendzentrum bieten wir, neben einem Malzirkel und Religionsunterricht, Kinderunterricht an. Die Kinder und Jugendlichen können hier unter anderem etwas über die jüdischen Traditionen, Kultur, Festbräuche oder die Schulbildung in Israel lernen. Ein weiteres Angebot besteht in der Madrichimschule, bei der sich junge Gemeindemitglieder zu Kinder- und Jugendgruppenleitern weiterbilden können. Die Mitarbeiter der Kinder- und Jugendabteilung organisieren darüber hinaus in jedem Jahr Sommer- und Winterferienlager im In- und Ausland sowie diverse Events und Gruppenausflüge. Beispielsweise haben die Kinder und Jugendlichen unserer Gemeinde in den letzten beiden Jahren an den JewroVision-Veranstaltungen in Mannheim und Dresden teilgenommen – ein an den Eurovision Song Contest angelehnter jüdischer Gesangs- und Tanzwettbewerb für Kinder und Jugendliche der jüdischen Gemeinden in ganz Deutschland.

  • Können Sie auch kurz beschreiben, worin die Arbeit des Frauenklubs und des Klubs „Schalom“ besteht?

Der Klub „Schalom“ ist ein Klub für Senioren, die sich regelmäßig etwa vier- bis sechsmalig im Jahr treffen. Es gibt keine „interne“ Mitgliedschaft in diesem Klub, er steht allen Senioren offen.

Der Frauenklub „Debora“ ist wesentlich aktiver und verlangt eine Mitgliedschaft im Klub. Die Mitglieder haben sich, innerhalb der Jüdischen Gemeinde zu Halle, eine Satzung gegeben und eigene Mitgliedsbeiträge eingeführt. Sie treffen sich mindestens einmal monatlich, im Herbst und Frühling auch zwei bis drei Male im Monat. Der Frauenklub „Debora“ hat zurzeit etwa 40 Mitglieder. Sie übernehmen unter anderem die Aufgaben des karitativen Bikur Cholim in der Gemeinde. Auch hier gibt es eine rege Zusammenarbeit mit den Frauenklubs in den Nachbargemeinden bis hin zu den Gemeinden in Brandenburg und Sachsen. Ich persönlich bin sehr stolz auf die Arbeit dieses Klubs!

  • Wie würden Sie das Leben für jüdische Menschen in Sachsen-Anhalt beschreiben? Gibt es einen Wandel in der Sozialarbeit?

Diese Frage lässt sich kaum kurz und präzise beantworten: Die jüdische Gemeinschaft ist ein Bestandteil der Gesellschaft, die in sich selbst schon mehr oder weniger mit Problemen im Alltag behaftet ist oder Erfolge aufweisen kann. Jüdische Mitbürger wohnen in Stadtteilen, in denen die Kriminalität in den letzten Jahren gestiegen ist. Auch die Mieten steigen und werden für die Hartz-4-Empfänger nicht immer vollumfänglich von den Sozialträgern übernommen. Mit denselben Problemen sehen sich auch die nichtjüdischen Bewohner der Städte Magdeburg, Halle oder Dessau-Roßlau konfrontiert, die auf SGB-II- oder SGB-XII-Leistungen angewiesen sind.

Wir haben derzeit weniger Anfragen in der Sozialabteilung als früher. Die Fälle sind jedoch meistens viel komplexer geworden. Es geht um Problemfälle im Rahmen von SGB II, SGB XII und manchmal auch SGB VIII. Besonders oft stellt sich uns die Problematik der Konsequenzen, die sich aus der Nichtanerkennung bei jüdischen Zuwanderern im Gegensatz zu deutschen Aussiedlern ergeben in Bezug auf ihren Lebensweg vor der Einwanderung nach Deutschland. Als Ergebnis haben wir das Problem der Altersarmut bei einigen unserer Mitglieder. Uns beschäftigen auch Einzelfälle in der Auslegung des Sozialgesetzes, die sich inhaltlich auf die Zeit der Schoa beziehen.

Was das jüdische Leben in den Gemeinden betrifft: Wir versuchen unsere Aktivitäten weiterzuentwickeln, insbesondere bei der Kinder- und Jugendbetreuung. Die G-ttesdienste finden regelmäßig statt, wenn auch immer mehr unter erhöhten Sicherheitsvorkehrungen. Auch für die älteren und kranken Menschen versuchen wir diverse Programme zu entwickeln, um den nicht immer rosigen Alltag dieser Menschen zu bereichern.

  • Gibt es mittlerweile eigentlich eine Einigung mit der Synagogengemeinde oder laufen noch immer Gerichtsverfahren?

Diese Frage – insbesondere in Verbindung mit dem 80. Jahrestag des Novemberpogroms – wundert mich…

Was bedeutet eine Einigung? Um sich über etwas mit jemandem zu einigen müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein:

  • Es gibt einen Sachverhalt, über den man sich einigen möchte.
  • Es gibt jemanden, mit dem man sich über diesen Sachverhalt einigen möchte.

Beides ist in diesem Fall einfach nicht vorhanden. Die Jüdische Gemeinde zu Halle (Saale) hatte in der Vergangenheit und hat auch jetzt keine gerichtlichen Auseinandersetzungen mit der Synagogengemeinde zu Halle e.V.

  • Was fehlt in Sachsen-Anhalt?

Was das jüdische Leben betrifft, so nenne ich eindeutig an erster Stelle die Synagoge in der Landeshauptstadt. Als wir alle gemeinsam im Jahr 2015 im Hotel Ratswaage in Magdeburg das Purim-Fest feierten, für das unser hallesches Jugendzentrum die Aufführung vorbereitet hatte, habe ich versprochen, dass wir sehr gern wieder das Purim-Shpil in Magdeburg präsentieren, sobald hier eine neue Synagoge erbaut ist.

Außerdem noch:

  • schulischer Religionsunterricht zum Judentum
  • eine Synagoge für die Jüdische Gemeinde zu Dessau
  • ein gut funktionierendes Netzwerk aus jüdischen Gemeinden und musealen Einrichtungen, die sich dem Judentum widmen, wie in Gröbzig, Halberstadt und der Region Dessau-Wörlitz, das allen Ausbildungsstätten im Bundesland die Möglichkeit bietet, die jüdische Gemeinschaft und die jüdische Geschichte und Religion kennen zu lernen; Derzeit funktioniert die Netzwerkarbeit mehr oder weniger gut in Halle (Saale), Magdeburg und Dessau, sie ist aber sehr stark vom persönlichen Engagement des jeweiligen Lehrers oder Erziehungsbevollmächtigten abhängig.
  • ein durchdachtes Konzept zur Bekämpfung von antisemitischen Tendenzen, insbesondere auch bei Zugewanderten aus Ländern mit einer aggressiven antijüdischen Staatspolitik, wie Syrien oder Afghanistan (dies ist jedoch kein spezifisches Problem in Sachsen-Anhalt, sondern betrifft die gesamte Bundesrepublik)
  • das Bewusstsein dafür, dass die jüdische Gemeinschaft ein Bestandteil der Gesamtgesellschaft ist, und demzufolge auch ein Bewusstsein, dass der Antisemitismus auf keinen Fall nur das Problem der jüdischen Gemeinschaft, sondern der Allgemeinheit ist und bleibt.